Nachdenkliche Lyrik

Die sieben Stimmen


Sieben Stimmen hör‘ ich stets

im Kopf und in der Brust,

im Keller, Bad und unterwegs,

sind mir mal Last, mal Lust.

 

Gelegentlich tönt`s zart und leis`

mein inn’res Gremium.

Doch soll‘s mich führ`n auf mein Geheiß,

dann bleibt es oftmals stumm.

 

Am lautesten erschallt ein Schreien,

das lobt, macht Angst, umschmeichelt,

es missversteht, kann nicht verzeihen,

es rebelliert und zweifelt.

 

Mal meldet sich ein sanfter Ton,

der niemals will begründen,

das, was er kann an Intuition,

im Hinterstübchen finden.

 

Des Weiteren vernehm‘ ich klar

in liebender Entspannung:

Die Wahrheit! Ist nur meine zwar,

doch unverfälscht empfangen.

 

Im Schlafe hinter Traumes Tür

erhalte ich Botschaft

von Führung, die will helfen mir

zu größrer Eigenmacht.

 

Von ganz weit her und doch so nah

hab‘ ich ein Lied vernommen,

das allezeit, doch mittelbar

in Liebe mir gesonnen.

 

Es weht ein Hauch, der inspiriert,

doch muss ich um ihn bitten.

Er lehrt und heilt und strukturiert,

will freudvoll mich beglücken.

 

Die höchste Quelle ist ein Klang

von tausend Engelsstimmen,

die gnadenvoll im Lobgesang

das Seelenlicht besingen.

 

So klinge ich mit meinem Chor,

der mir will alles gelten.

Er singt im Herzen mir und Ohr

von endlos weiten Welten.

 



Seelenreise

Als ich einst ein Bauer war

und treu ich meinen Dienst versah

auf Acker, Weide, Feld, im Stall,

war hart die Arbeit, karg das Mahl.

Die Hände wund, der Rücken krumm,

die Augen trüb, die Zunge stumm.

Der Klosterherr nahm uns den Zehnten,

zum Dank gab er uns Gottes Segen.

 

Als ich einst dein Liebchen war,

da galten wir als holdes Paar,

das Seit‘ an Seit‘ durchs Leben geht

und jede Widrigkeit besteht.

Doch unser Bund war schwer belastet,

so stieg ich scheu und leidbehaftet

ins lieblos–kalte Ehebett,

wo still erfüllt` ich meinen Zweck.

 

Als ich einst ein Krieger war,

da suchte ich stets die Gefahr

und fand sie überall gegeben,

riskierte im Gefecht mein Leben.

Im schwersten Kampf, den ich ausfocht‘,

ihn zu besteh’n, ich nicht vermocht‘,

erlag ich meinen inn’ren Drachen,

die Zorn und Streitsucht erst entfachen.

                        

Als ich eine Hure war,

bot meinen schönen Leib ich dar.

Doch hörte ich nur Hohn und Spott,

die Messe man mir strikt verbot.

Es sah anhand der äuß`ren Hülle

kein Freier die verborg`ne Fülle,

die meiner Seele innewohnt‘.

Nur äuß’re Schönheit wird belohnt.

 

Als ich einst ein König war,

umgab mich eine treue Schar

von Mannen, die den Eid mir schwor’n,

manch‘ Leben ging im Krieg verlor’n.

Jedoch fürcht‘ ich Verrat und Neid

und wurd‘ regiert von Einsamkeit,

bis ich auf meinen Mauern stand,

tief fallend meinen Tod dort fand.

 

Als ich einst ein Bettler war,

welch‘ schlimme Armut ich da sah

bei Kranken, Alten, Vagabunden:

Der Leib, die Kleider war’n zerschunden.

Noch größ’re Armut tat zerstör’n

Verstand und Herz der noblen Herr‘n.

So freut‘ mich, im verdreckten Hemd,

dass kein Vergnügen war mir fremd.

 

Als ich deine Mutter war

und sieben Kinder ich gebar,

verlor ich vier, die ich begrub,

ein Pesthauch sie zu Grabe trug.

Ihr Brüder standet fest zu dritt

und hieltet miteinander Schritt.

Doch Reichtum du gewannst und Macht,

was euch nur Missgunst hat gebracht.

 

Als ich einst ein Träumer war,

da trug ich wallend langes Haar

und färbte mir das Leben bunt.

Und doch lag meine Seele wund.

War arm an Mammon, arm an Geld,

doch reich an Leid und Schmerz der Welt.

Was schwer auf meinen Schultern lag,

das schwärzte mir manch‘ bunten Tag.

 

Als ich einst ein Henker war,

da lebte ich recht unnahbar.

Des Volks Verachtung bis aufs Blut

entflammte in mir Zorn und Wut,

die durch das Beil in meiner Hand

am Hals des Sünders Rache fand.

Und doch, so muss ich eingesteh‘n,

hab‘ oft die Unschuld ich geseh‘n.

 

Als ich einst ein Engel war

und mir den Lärm der Welt besah,

erstaunte mich das Treiben sehr:

Die Menschen machen sich’s so schwer.

Sie suchen zwanghaft nach dem Glück,

sie streben fort, schau’n oft zurück.

Doch seh’n sie nicht, was vor ihn’n steht,

was Frieden gibt, der nie vergeht.




    Gedanken zur Leitkultur

    Die öffentliche Diskussion                                      
    erhitzt sich nun seit langem schon:                       
    Durch Chaos, Norm und Wert bedrängt,                 
    wer Kultur pluralistisch denkt.
    Denn Richtmaß, Leitbild, Sinn und Ziel
    bestimmt des Landes Lebensstil.
    So weit, so gut, doch eines nur:

    Was gilt als „deutsche Leitkultur“?

    So überleg‘ ich hin und her,                         
    denk’ an Rousseau, van Gogh, Homer;      
    doch kommt der Mut mir gleich abhanden,
    denn keiner stammt aus deutschen Landen.


    Da seh’ ich klar, ich Ignorant,            
    Genies wie Humboldt, Bach und Kant.   
    Auf Einsteins Formeln, Goethes Schriften   
    kann keine Weltkultur verzichten!


    Die Erkenntnis, die geweckt,     
    hat Forschergeist nun angesteckt.
    Und so versuche ich, die Boten
    der Erstlingsschöpfung auszuloten.

    Jede Form der Wissenschaft    
    wurzelt tief in Hellas‘ Kraft.      
    Zahlen-, Sprach- und Notenkunst
    blühen auf dank Musengunst.         


    Und abermals muss ich erkennen,
    dass ohne griechisches Ersinnen
    Goethes geistvollem Verkehr         
    das Fundament entzogen wär’.

    Ich frage, da mein Blick geweitet,
    welche Kultur hier wirklich leitet?
    Denn zur Veredlung nur gelangt,
    was schon im Geiste hat Bestand.


    So lob ich der Geschichte Lauf,
    denn ohne sie kein Sinnenschmaus                           
    und ehre still und weit gereist         
    der Wurzel Frucht: Europas Geist.


    S. Kessler   (2004)



    Philosophie des Puzzlespiels

    Der Puzzler wird von Ignoranten oft belächelt,      
    wie er verzückt vor einem Chaos steht                  
    und mit Geduld und unvermittelt                                    
    Teil an Teil und Stück um Stück anlegt.

    Doch welche Ähnlichkeiten bei näherer Betrachtung
    ergeben sich von weitreichendem Rang                            
    für die lebendig-geistige Verfassung                                 
    des Strebens zwischen Freiheitslust und Zwang!


    Denn wie die Gliederung des Puzzlesaumes                      
    am Anfang jeder Zusammenfügung steht,                
    beginnt der Weg am Grenzwall des Gefahrenraumes,                                                        
    der erst erscheint, wenn deutlich festgelegt.

    Der Nebel weicht im zunehmenden Maße,                    
    je mehr verknüpft, gefügt und strukturiert.                 
    Ein lang gesuchtes Teil, gesetzt an rechtem Platze 
    ganz neue Perspektiven dann gebiert.


    Das ganze Puzzle tritt nur ins wahre Licht,            
    wenn jedes Fragment, jedes Stück im Bunde 
    formrein und farblich der Vorsehung entspricht    
    und planvoll dient in anvertrauter Runde.

    Die Mühsal von einzelner Hände Tat                      
    treibt ankerlos auf unbestimmten Bahnen.            
    Erst durch Einordnung schließt sich die Naht         
    des Bündnisses von Schöpferkraft und Rahmen.

    Ein letztes Teil, auch noch so unscheinbar,           
    gibt dem Werk die entscheidende Bestimmung     
    und macht’s zu dem, was es schon vorher war:    
    ein stilles Bild in schweigender Vollendung.


    S. Kessler  2004




    Der Mensch

    Der Mensch ist ein getrieb’nes Tier,    
    das Leiden schafft, solang es strebt,     
    da seine Leidenschaft und Gier             
    ihn tief ins Faserwerk verwebt.

    Er sucht und sehnt sich nach dem Glück   
    und irrt voll Wahrheitssinn umher,          
    doch findet nicht den Weg zurück,            
    sein Temperament, es schwelt zu sehr.


    So brennt er laut, die Flamme sprüht, 
    doch sieht er schon: Das Ziel ist nah!        
    Er zügelt sich – denkbar verfrüht,          
    was maßlos war, wird offenbar.


    Schon stirbt er ab und krümmt sich klein,                                                               
    will allem Walten weit entflieh’n.                                                                            
    Doch fügt sich so zur Mitte ein,                                                                                
    was aus der Asche wird ersteh’n.

    S. Kessler   2006



    Irgendwer, irgendwo

    Du fühlst, von Fülle weit entfernt,              
    dich tief im Innern wie entkernt,         
    erkennst kein sinnvoll’ Walten.                   
    Du fischst im Trüben, nabeltief,             
    ziehst klagend aus dem seichten Mief        
    nur taumelnde Gestalten.


    Die Zeit vergeht, der Sinn wird stumpf,              
    die Lebenskraft: geschrumpft zum Rumpf,          
    es fehlen Hand und Fuß.                                    
    So suchst du still nach Licht und Lust                
    und findest nur erhab’nen Frust.
    Es bleibt ein ferner Gruß.


    S. Kessler   2007



    Der Türöffner

    Durch tiefe Höhlen, grelle Sonnen,      
    wilde Stürme, finst’re Nächte                    
    irrt er blind und unbesonnen,           
    stummer Spielball dunkler Mächte.

    Erdrückt von selbst gewähltem Leid,       
    nach aussichtslosem Kampf erlegen, 
    verneint er müd’ in Einsamkeit                       
    den trotzig abgelehnten Segen.


    Doch du befreist, erhebst ihn leise,        
    umarmst ihn, zeigst ihm seine Kraft.                         
    Du schickst den Geist auf seine Reise                   
    und führst ihn so zur Meisterschaft.


    S. Kessler    2011