Das Böse – Eine philosophische Betrachtung

Gibt es eine essentiellere Frage, die versucht, das Wesen des Menschen zu bestimmen? Hielt nicht in einem der ältesten Mythen der Menschheit durch Adam und Evas Fall aus dem Paradies zwar das Böse, aber auch die Erkenntnis in das menschliche Leben Einzug? Und haben wir diesem gewaltigen Schritt nicht den entscheidenden Unterschied zum Tier und gleichzeitig die Erkenntnis des Guten und somit des Göttlichen zu verdanken? Drei grundlegende Fragen, die nicht nur das tragende Fundament der Arbeit von Theologen und Philosophen bilden, sondern auch die zur Relativierung neigenden Mystiker zu einer Positionierung zwingen.

In den monotheistischen Religionen herrscht die Einstimmigkeit, dass sich im moralischen Sinne das Böse von einer Abweichung von Gottes Geboten bzw. als Hybris, sich Gott gegenüber aufzulehnen, herleitet. Durch die Absonderung von Gott (= der Übertritt seiner Gesetze) kam die Sünde in die Welt (von ahd: suntea; mhd: sunder, was so viel wie „abgesondert“, „allein sein“, also „getrennt von Gott sein“ bedeutet). Veranschaulichend wird die Geschichte des ehemals hohen Engels erzählt, der sein wollte wie Gott und in dieser Folge als Teufel auf die Erde abgesondert wurde. Seither versucht er die Geschicke der Menschen von Gottes Wegen wegzulenken. Im Zusammenhang mit der Vorstellung vom Teufel als Wider- sacher Gottes hat die Literatur zahlreiche Verdichtungen des Stoffes hervorgebracht. Man denke exemplarisch an den Geist, der zwar das Böse will, aber stets das Gute schafft in Goethes „Faust“. Es scheint zumindest in der Goethe’schen Interpretation des Stoffes so, dass Gott nie die Oberherrschaft verliert und dass auch Mephisto dem göttlichen Plan, alles seinem guten Ende zuzuführen, gehorcht.

Anders wird der Vorgang in der mystischen Philosophie beurteilt. Hier tritt der Teufel – Luzifer genannt - nicht nur als höchster Engel in Erscheinung, sondern auch als der, der den – um es salopp zu formulieren - ungefragtesten Job zu erledigen hatte: Er zeigte sich als der Engel, der Gott am meisten liebte, bereit, die größtmögliche Ferne von ihm zu ertragen, indem er den „Sturz“ in die dichte Materie vornahm, um so unvergleichliche Erfahrungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für die höheren Wesen der Schöpfung zu schaffen. Nicht umsonst trägt dieser hohe Engel den Namen des Licht- und somit Erkenntnisbringers (lat.: lux = Licht, lat.: ferre = tragen, bringen).

Im ontologischen Sinne wirft die geplagte menschliche Seele Gott die berühmte, von Gottfried Wilhelm Leibniz eingeführte Theodizee-Frage vor die gesalbten Sandalen: Wie ist angesichts der Allmächtigkeit Gottes das Übel in der Welt zu erklären? Der Rationalist Leibniz begegnet der Problematik mit dem ganz im Zeichen der Aufklärung stehenden Erklärungsversuch, dass durch die Kompetenzbeschneidung Gottes die Vernunfttätigkeit des Menschen eine Aufwertung erfahre und so der Weg zur Selbstverantwortlichkeit des Menschen geebnet werde. Schließlich gelte es, dem freien Willen, der erst die Tiefe der menschlichen Existenz ermögliche, Rechnung zu tragen. Diese Erkenntnis in den Schöpfungsgedanken integrierend spricht Leibniz von der „bestmöglichen aller Welten“.

Östliche Anschauungen gehen gemäß dualistischer Metaphysik von zwei gegensätz- lichen, nur in Abhängigkeit zum anderen denkbaren und sich dennoch gegenseitig durchdringenden Prinzipien aus, wie sie sich bspw. im gebärenden und verschlingen- den Aspekt des hinduistischen Gottes Shiva und dem chinesischen Yin-Yang-Symbol offenbaren. Im Wesentlichen werden jedoch beide Prinzipien als Ausprägungen derselben Energie verstanden. Das würde bedeuten, dass sich das Konzept des Bösen, welches sich lediglich als Ausgeburt der Dualität und somit als Illusion entlarvt, nicht nur mangels Greifbarkeit als unzuverlässig herausstellt, sondern sich geradezu in Luft auflöst. Doch welchen Wert sollte diese Erkenntnis dann noch für die praktische Alltagsgestaltung der Menschen haben? Diese Aporie wird in der buddhistischen Tradition mit der Vorgabe des Entwicklungsziels aufgelöst, den Geist vollständig von allen Denkinhalten zu bereinigen. Dass mit der Auflösung der negativen Gedanken auch die konstruktiven den Geist verlassen, ist dabei nicht von Belang.

Nun soll sich der Scheinwerfer der westlichen Philosophie einmal auf das Phänomen richten: Innerhalb der Mutter aller Wissenschaften setzen sich neben den Ethikern auch die Metaphysiker und Erkenntnistheoretiker mit der Frage nach dem Bösen auseinander. Erstere decken durch deskriptives Erfassen Zusammenhänge ethischer Überzeugungen auf oder sie gehen normativ vor, indem sie selbst ethische Grundsätze erstellen und begründen. Erkenntnistheoretiker bemühen sich um eine Ergründung der unleugbaren Tatsache des Bösen als der dem Guten entgegen- gesetzte Seinsbereich. Wie es der Philosophie eigentümlich ist, wird jede Argumen- tation an der Bestimmung des Menschen verankert. Die zerstörerische Wut eines Asteroiden oder einer Naturkatastrophe steht dabei genauso wie die instinktgeleitete Vernichtung innerhalb der Nahrungskette im Tierreich und die den Menschen befallenden Krankheiten und Leiden außerhalb des philosophischen Scheinwerfer- lichtes. Interessant ist einzig die Untersuchung des menschlichen Subjekts als Phänomenträgers. Landläufig gilt ein Mensch, der Übles durch sein Handeln verursacht, als böse (malum morale), doch auch – und wahrscheinlich schwer wiegender – als charakterlich boshaft. Darunter fiele jemand, der eine Katastrophe veranlasst, Tiere aus reiner Selbstsucht tötet und anderen Menschen bewusst Schaden zufügt und sie leiden lässt.

Platon als der Vater der abendländischen Philosophie attestierte dem Menschen neben dem Körper auch eine Seele, wobei dieser allein mit der dem Leiblichen überlegenen Seele – und hier zeigt sich Platon als der Begründer des Idealismus - mittels einer ihr ureigenen vernunftbegabten Kraft (Logos) Zugang zum höchsten Prinzip des Seins (Arche) erlangen könne. Da alle materiellen Dinge in der Welt als Abbilder ihrer ursprünglichen Formen in der Ideenwelt (Eidos) von der Seele in einem Akt der Wiedererinnerung (Anamnesis) in ihrer wahren Gestalt erkannt werden könnten, gelte das geistige Prinzip als der Materie überlegen. Der wissende, philosophierende Mensch sei sogar in der Lage, die höchste aller Ideen, die Idee des Guten (Agathon), als oberstes göttliches Prinzip zu schauen, wobei sich aus dieser Einsicht weise Handlungsentscheidungen zum höchsten Wohl aller Beteiligten ableiten ließen. Aus diesem Grund fordert Platon auch eine Herrschaft der Philosophen im Staat. Im logischen Rückschluss wäre das Böse somit als Hand- lungsantrieb zu verstehen, der sich nicht aus der höchsten aller Ideen speist und somit aufgrund seiner Unwissenheit und mangelnden Weisheit geringere, weniger großmütige Ziele als das oben genannte anstrebte. Dies wäre eine kaum umsetzbare Forderung an das moralische Verständnis und die Welt müsste infolgedessen voller Übel sein.

Der Kirchenvater Thomas von Aquin ging seiner hochmittelalterlichen Zeit gemäß davon aus, dass sich die Frage nach dem Übel von der Vollkommenheit von der göttlichen Schöpfung ableite. Da Gott nichts Unvollkommenes geschaffen haben könne, sei eine essentielle Existenz des Bösen daher gar nicht denkbar. Doch auch Thomas von Aquin konnte unliebsame Ereignisse im Leben nicht leugnen und definierte das Böse schlichtweg als Abwesenheit des Guten, als Mangelzustand also. Der Mangel lasse sich jedoch nur von der Kontrastsubstanz des Guten her bestimmen. Er könne daher das Gute – das Sein, die Schöpfung – niemals aufzehren, sonst würde sich das Über selbst aufheben.

Es scheint, als hätte die jüdische Philosophin und Professorin Hannah Arendt sowohl bei Platon als auch bei Thomas Anleihen gemacht, um ihre Untersuchung auf die Feststellung nicht vorhandener persönlicher Reife des Handelnden sowie auf die Abwesenheit moralischen Urteilsvermögens zu stützen. Sie unternahm einen Erklärungsversuch, das Böse sowohl in Einzelpersonen als auch in totalitären Regimen aufzudecken. So unterstellt sie dem SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, dessen Prozess sie in den frühen 1960er Jahren in Israel als Journalistin verfolgte, mangelndes Vorstellungsvermögen, Realitätsferne und Gedankenlosigkeit. Eichmann sah sich als gewissenhaften Gefolgsmann, der unter Berufung auf den Kant’schen Imperativ nur seine Pflicht getan habe. Die drei oben genannten der Banalität verdächtigen Eigenschaften, welche jegliche teuflisch-dämonische Tiefe vermissen ließen, richteten, so Arendt, gepaart mit einer ungewöhnlichen Dienst- beflissenheit größeres Unheil an als alle dem Menschen innewohnenden bösen Triebe zusammen.

Psychologisch betrachtet gewinnt diese Perspektive weiterhin an Profil, wären dem Bösewicht mangelndes Wissen – oder Nicht-Wissen-Wollen - über Ausmaß und Folgen seines Handelns, Gewissenlosigkeit, mangelndes Empathievermögen und eine stark eingeschränkte bis nicht vorhandene Fähigkeit zur Selbstreflexion nachzuweisen. Zusätzlich müsste das übermäßige Walten einer fixen Idee, einer fanatischen Überzeugung, zu den „Guten“ zu gehören, für die „richtige“ Sache zu kämpfen, zu beobachten sein. Nur so lassen sich Verbrechen von Volksverhetzern und Massenmördern erklären. Machtinhaber wie Hitler, Stalin, Saddam Hussein und Osama bin Laden erweisen sich in diesem schattenreichen Licht zweifelsohne als „Ausgeburten“ des Bösen. In diese Kategorie der Bösewichter gehört nach nämlicher Definition auch der ultrakonservative Einzeltäter Anders Breivik, dessen fanatische Überzeugung, Norwegen vom „Kulturmarxismus“ und Islam zu befreien, ihn dazu veranlasste, 77 Menschen zu ermorden. An dieser Stelle wären auch Terrorgruppen wie der NSU, die linksradikale RAF sowie religiös motivierte Vereinigungen wie der IS zu nennen. Alle Kriterien erweisen sich trotz der Beliebigkeit der Vorzeichen der fanatischen Ausrichtung, sei sie ideologisch oder religiös, bei den genannten Personen(-gruppen) als erfüllt – mit Ausnahme des Nicht-Wissen-Wollens, da eine gesellschaftspolitische Wirkung von vornherein beabsichtigt war. Maßgeblich für die Ermittlung des Grades an Boshaftigkeit ist daher weder der ideologische Antrieb, noch die Anzahl der Opfer, sondern vielmehr die Wahl der Mittel und – ganz entscheidend – die Berufung bei klarem Bewusstsein auf ein Handeln aus freiem Willen heraus: Eine Abschreckung der Zielpersonengruppen, ein Appell an die Öffentlichkeit zur Veränderung entsprach in allen Fällen von vornherein der Zwecksetzung. Die Vereinigung von Selbstüberhöhung, der alle eventuellen Skrupel untergeordnet werden, mit dem (missbräuchlichen) Einsatz des freien Willens führt zu lebensfeindlichen Taten und muss infolgedessen auf die verwerfliche Seite der Moral gestellt werden. Als Gegenbeispiel dient der Amoklauf des an Autismus leidenden Täters an einer Grundschule in Newtown, der angab, Breiviks Tat noch übertreffen zu wollen. Die Bösartigkeit sowie die Schuldfrage sollte in diesem Fall eher an die amerikanische Waffenlobby weitergereicht werden, da bei dem jungen Mann weder ein klares Bewusstsein – vielmehr ein Nicht-Wissen-Können - noch die Absicht eines Politikums belegt werden kann.

Zurück zu den aufgespürten Urbildern des Scheinwerfers des Idealismus: Der der idealistischen Tradition verpflichtete große deutsche Aufklärer und Ethiker Immanuel Kant betont in Platons Sinne die speziell menschliche Eigenschaft der Vernunft- erkenntnis (an welcher es oben genannten Persönlichkeiten wohl mangelte), fordert jedoch den praktischen Nutzen derselben und erstellt eine am Konzept des guten Willens, welcher aus dem Vernunftgebrauch hervorgehe, verankerte Sitten- lehre. Wie Arendt weigert sich auch Kant, dem menschlichen Wesen etwas Teuflisches anzudichten, da in seinen Augen eine boshafte Vernunft, die das Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft bedeuten und somit auf einen bösen Willen hinweisen würde, den Menschen auf das bloß Tierische reduziere. Die Vernunft stehe nämlich mit dem Konzept des Bösen im logischen Widerspruch. Ebenso wenig könne die Sinnlichkeit des Menschen und die daraus entstehenden natürlichen Neigungen für boshaftes Handeln verantwortlich gemacht werden, weil sie schließlich Gott gegeben sei. Kant schlussfolgert daraus, dass einem bösen Menschen eine Verkehrtheit des Herzens zu eigen sei, die eine Umkehrung der sittlichen Ordnung bewirke, da sie quasi übergewichtig die Grundlage aller anderen Maximen verderbe. Gäbe es so etwas wie einen bösen Willen nicht, aber einen radikalen „Willen zum Bösen“, so müssten Handlungen, die auf Verblendung und Umkehrung ihrer natürlichen Ausrichtung zurückzuführen sind, als moralisch verwerflich gelten. Ebenso wehrt sich der idealistische Denker F. W. Schelling gegen eine Rationali- sierung des Bösen und geht von dessen irrationalem Charakter aus, der eine Affinität des Ich zum Bösen vorführe. Das Ich empfinde eine eigentümliche Lust, aus der Ordnung zu sich selbst und zu anderen auszubrechen und sich so in der Sprengung der Begrenzung durch das Bewusstsein zu verlieren. Dieser Rückgriff auf eine geistlose Natur des Menschen manifestiere sich in grausamen Akten anderen gegenüber, um die Destruktion um ihrer selbst willen zu genießen. Lassen sich durch die Vorstellung eines verkehrten Herzens und der radikalen Unterdrückung bzw. Ausschaltung der Vernunft bspw. die Antriebe eines Marc Dutroux besser erahnen, welcher mehrere Kinder und junge Frauen sexuell missbrauchte, seine Vergehen zur Pornographieherstellung mitfilmte, um seine Opfer irgendwann zu töten bzw. während seiner Haft verhungern zu lassen?

Auch bei äußerster Strapazierung des Verständnisvermögens bleibt immer ein Rest Rätselhaftigkeit zurück. In welcher Weise manche Menschen in der Lage sind, anderen die Freiheit zu rauben, sie zu missbrauchen, zu töten, erstickt jeden Glauben an die Vernunftbegabung des Homo sapiens‘. Bereits Sigmund Freud unterstellte der menschlichen Psyche eine Übermacht an Aggressionsneigung und Triebbegabung, die den Menschen rücksichtslos dazu veranlasse, sich wie eine wilde Bestie des Besitzes und Lebens anderer zu bemächtigen. Der Ausbildung der Kultur komme daher eine entscheidende Rolle zu, eine seelische Gegenkraft zu entwickeln, die vor allem mittels religiöser Gebote die Aggressionstriebe in sozial verträgliche Bahnen lenken solle. Ein überaus pessimistisches Menschenbild vertrat auch der englische Aufklärer Thomas Hobbes, auf den sich Freud in dieser Sache gerne bezieht. Hobbes fasste seine Erfahrungen in dem Aphorismus homo homini lupus („Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“) zusammen. Im Sinne von Hobbes und Freud würde auch der Verhaltensforscher Konrad Lorenz für das geschilderte Verhalten aufgrund der genetisch bedingten Natur des Menschen eine vollständige Rehabilitation fordern, da es zwar als bedauerliche, aber dennoch innerhalb des Rahmens der Natur mögliche Entartung des gesunden Aggressionstriebes angesehen werden müsse. Schließlich diene die Aggressionsneigung lediglich der Sicherung des eigenen Überlebens, wobei die Wahl der Mittel zweitrangig unter dem ursprünglichen Auftrag der Natur stehe. Und der Natur könne doch nichts Bösartiges unterstellt werden. Auf diesem Hintergrund dürfte sich in unserer Betrachtung nichts Überraschendes herausgestellt haben, lediglich die Erkenntnis, dass Bösartigkeiten der menschlichen Natur innewohnen und daher jederzeit aus ihrer Lauerhaltung ausbrechen können. Böse Menschen folgten daher nur ihrer menschlichen Bestimmung und die Menschheit wird damit leben müssen.

Außer der Psychologie liefert die Neurologie wertvolle Hinweise auf den Ursprung des Bösen. So gebe es den Medizinern H. und A. Damasio zufolge ein moralisches Zentrum im menschlichen Gehirn, das für moralische Urteile und vernunftgeleitetes Handeln zuständig sei. Sie argumentieren mit dem Fall des amerikanischen Bauarbeiters Phineas Gage, welcher sich im Zuge von Sprengarbeiten durch einen Unfall das Stirnhirn mit einer Eisenstange zerstörte. Medizinisch sensationell war Gages Regenerationsfähigkeit, da er nach wenigen Monaten wieder vollständig hergestellt war – mit Ausnahme seiner Urteilsfähigkeit und sozialen Kompetenz. Gages Kollegen wunderten sich in den Folgejahren nach dem Unfall über dessen verändertes Wesen. Er galt fortan als launisch, unzuverlässig und verlogen. Sein Hausarzt bescheinigte ihm den Verlust des Gleichgewichts zwischen seinen intellektuellen Fähigkeiten und seinen animalischen Trieben. Für die beiden Neurologen Damasio belegt dieser Fall, dass bestimmte hirnphysiologische Regionen intakt sein müssen, um Gut und Böse voneinander unterscheiden zu können.

Konnte man im vorausgehenden Beispiel die Ursache des „Übels“ noch eindeutig auf die neurologische Verletzung zurückführen, so fällt dies in folgenden Fällen schon schwerer: An seiner Aggressivität demonstriert der einzelgängerische Amokläufer Robert Steinhäuser, der 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen und sich selbst erschoss, zweifelsohne „böses Potenzial“, doch ist damit die Mani- festation des Bösen erschöpfend erklärt? Und inwiefern handeln tötende Kinder- soldaten in Somalia, für die Krieg im Grunde nur ein Spiel ist, auch böse? In beiden Fällen, so unterschiedlich ihre Hintergründe sein mögen, würde der Philanthrop Jean-Jacques Rousseau im Gegensatz zu Hobbes nicht die Ursache in der menschlichen Natur finden – denn diese sei überaus gutmütig und bei natürlicher Belassung im Einklang mit sich selbst -, sondern in den gesellschaftlichen Verhält- nissen. Seiner Meinung nach sei die Entstehung des Eigentumsdenkens für determi- nierende Besitzverhältnisse, für Arbeitsteilung und Standesunterschiede in der Gesellschaft ursächlich. Ein Jugendlicher ohne Perspektive – Robert Steinhäuser wurde kurz vor dem Abitur damaliger thüringischer Gesetzeslage gemäß ohne Abschluss von der Schule verwiesen - rächte sich infolgedessen in Rousseaus Sinne für den Verlust seiner natürlichen Freiheit und Gefühlsordnung an der Schule, dem Bildungssystem und an der Gesellschaft mit ihrem Leistungsdruck und Effizienz- denken. In diesem Lichte betrachtet wären bei arglosen Kindern, die wegen Armut und fehlender intakter Natur, in der sie – wie von Rousseau gefordert – in natürlicher Ordnung Selbsterfahrungen sammeln könnten, ebenso wenig boshafte Beweg- gründe festzustellen, zumal die gesellschaftlichen Bedingungen ihnen die kriegerischen Handlungen als einzige Sinnstiftung anbieten. Die Werte der Gesellschaft, sprich die Kultur, verderbe die kindliche Unschuld, die Reinheit der Seele und führe daher erst zu Entartungen menschlicher Verhaltensweisen. Träte Rousseau in dieser Verhandlungssache als Richter auf, so säße nicht der die Gewalt Entäußernde, sondern die Gesellschaft mit ihrer schädlichen Kultur auf der Anklagebank. Auch wenn diese Überlegungen recht zynisch klingen, das Etikett des Bösen lässt sich aus dieser Perspektive nicht aufrechterhalten. Doch würde Rousseau auch die Verbrechen des Metzgergesellen Jürgen Bartsch entschuldigen, der in den 60er Jahren vier Jungen missbrauchte und auf grausamste Weise umbrachte? Das Wuppertaler Landgericht verurteilte den 21-Jährigen zu lebens- länglicher Zuchthausstrafe, obwohl die Instabilität und emotionale Kälte, die Kindheit und Jugend des Angeklagten kennzeichnete, augenfällig war. Nachdem Bartsch in seinem ersten Lebensjahr zur Waise geworden war, durchlief er mehrere Erziehungs- und Bildungsstationen, in welchen er nichts anderes als lieblose Strenge, Isolation und gewaltsame Züchtigungsmaßnamen erfuhr. Es bleibt anzunehmen, dass ein Richter Rousseau auf dem Hintergrund dieser jungen Biographie angesichts der begangenen Grausamkeiten des Täters die Augen verschließen und für mildernde Umstände plädieren würde.

Doch bevor wir den erkenntnisgeleiteten Lichtkegel unserer Untersuchung ausknipsen, soll ein letzter tiefschürfender Denker zu Wort kommen, der auf der einen Seite von der die Wirklichkeit beherrschenden Zerrissenheit geistig wie gesundheitlich erheblich gebeutelt wurde und der sich auf der anderen Seite in seinen geistigen Höhenflügen wie kein anderer um eine Synthese der Gegensätze bemühte, die die europäische Philosophie bis dato konsequent aufrecht zu erhalten bestrebt war: der Pfarrerssohn Friedrich Nietzsche. Insofern schlägt er (als Wiederentdecker uralter Weisheiten) eine Brücke zu modernen spirituellen Lehren. Nietzsche erklärt in einer Art Vorstufe zur Erlösung die drei polarisierenden Mächte Religion, Moral und Wahrheit aufgrund ihrer Beliebigkeit für nichtig. Da Gott tot sei, sei es nun am „neuen Menschen“, als Maß aller Dinge eine Umwertung der Werte vorzunehmen. Der Mensch strebe, wie alles Sein, über sich hinaus und dieser Wille zur Macht solle in dionysischer Manier dem „Übermenschen“ ermöglichen, sich in alle Ewigkeit selbst zu schaffen und sich selbst zu zerstören, um sich anschließend wieder von neuem zu erschaffen. Das Böse trete somit als Übergangstadium auf und fließe in den zirkulären Strom der schöpferischen und zerstörerischen Kräfte als notwendiger Bestandteil ein. Die Rettung aus diesem Nihilismus sei nach Nietzsche die vollständige Bejahung der Sinnlosigkeit, um durch die so erwiesene Schicksals- liebe Sinn zu stiften. Wahrscheinlich war er der erste Denker, der die Erkenntnis der moralischen Relativität nicht nur intellektuell durchdrungen hatte, sondern auch den Anspruch der praktischen Umsetzung zuerst an sich selbst stellte. An dieser ungeheuerlichen Forderung, gleichsam göttliche Eigenschaften auszubilden, ging Nietzsche nach langer geistiger Umnachtung in seinem 55. Lebensjahr zugrunde. Das einzig Böse im Sinne von Lebensfeindlichkeit ließe sich in seinen Gedanken- inhalten finden, die sich wie ein Virus gegen ihren eigenen Wirt wenden, um ihn zu zerstören. Doch da virales Wuchern nicht in den Bereich der menschlichen Hand- lungskompetenz fällt, greift hier eine moralische Beurteilung nicht – auch wenn, dessen ungeachtet, eine scharfsinnige Position aus planetarischer Sicht die Menschheit als Ganzes mit einem Virus vergleicht….

Im Kerzenschein der Vernunft soll nun zusammengefasst werden, was die philosophische Perspektive als kleinsten gemeinsamen Nenner anzubieten hat: Das Phänomen des Bösen ist ausschließlich an verwerflichen Taten des Menschen festzumachen, die er unter der Voraussetzung erzieherischen und gesellschaftlichen Wohlwollens, bei physiologischer und psychischer Gesundheit und unter uneinge- schränkter Verwendung seines freien Willens begeht. Können determinierende Defekte ausgeschlossen werden, so zeigt sich das Böse vor allem in ideologisch motivierten Verbrechen und in der bewussten Annahme, von einer höher gestellten, „besseren“ Macht oder einer Art Herrschaftswissen legitimiert zu sein, wobei diese Legitimation auch einschließt, sich über die Einhaltung der Menschenrechte hinweg- zusetzen. Somit zeigt sich innerhalb der Diskussion über das Böse, dass nichts einen so entscheidenden Ausschlag gibt, wie die Inhalte menschlicher Überzeugungen.


S. Kessler  2013