Sturm über der Stadt

                                                                                                                      I
     
    Fritzi überlegte kurz, ob sie heute Vormittag nicht den neuen Text von Renatus lesen sollte. Es ging darin um ein gruseliges Geschehen, das sich um einen seltsamen Totenkult drehte, bei dem die Toten in der Erde auf extra zu diesem Zweck angelegten Gehegen begraben wurden. Aber sie entschied sich dann doch, wie meistens, ihrer Berufenheit als Kutscherin nachzugehen. Außerdem war ihr nicht danach, noch so kurzfristig beim Arbeitskoordinator wegen eines Einspringers anzurufen. Die Anzeigentafel auf dem Hof zeigte schließlich schob acht Uhr einundvierzig. Sie streifte sich ihre drei funkelnden Ringe über und knöpfte sich die dunkelblaue Kutscheruniform zu. Dabei strichen ihre Finger andachtsvoll über die Holzknöpfe, als wären sie Saiten eines Instruments: Heute Abend würde sie wieder Cello spielen können. Und ihr lieber Ferdinand würde im Quartett die Querflöte spielen. Für die Quintimusabende waren neben Carlos auch Werke von Linus, ihrem Lieblingskomponisten, vorgesehen. An diesen Abenden war das Programm das kürzeste in der Woche, so dass immer noch ausreichend Zeit blieb, sich anschließend ausgiebig mit Ferdinand zu unterhalten. „Vielleicht sollte ich doch mal versuchen, ihn für eine Paarwohnung zu gewinnen“, dachte sie, „wenn es stimmt, was unser Stadtraumverwalter behauptet, dann sind noch einige gut gelegene Paarwohnungen in unserem Stadtteil frei. Und außerdem“, überlegte sie glückselig, „wäre es schön, wenn Jasmin öfter bei uns beiden übernachten könnte!“ In der letzten Zeit hatte Fritzi häufiger an ihre gemeinsame Tochter gedacht, die sie, obwohl sie bei den Alten im Zehnten Stadtteil, ihrem Geburtsort, bestens aufgehoben war, zu selten sehen konnte. Ferdinand und sie hatten schon mal überlegt, ob sie sie nicht zu sich in den Sechsten Stadtteil holen sollten. Doch Jasmin hatte sich in den fünf Jahren schon so sehr an ihre Kindererzieher Jakob und Josephine und an die anderen Kinder der Gruppe gewöhnt, dass sie die Idee bald verworfen hatten. Denn Ferdinands Vater Jakob war der beste Erzieher, den seine Enkelin haben konnte, und nirgends gab es so wertvolles Spielzeug wie in den Kinderheimen. Spielzeug war auch seit jeher recht strichaufwendig. Herstellungsdauer, Größe und Gewicht waren genauso wie Möbel und Melonen im oberen Bereich anzusiedeln. Noch ein Grund, weswegen es klüger wäre, Jasmin bei den Alten zu lassen. Die hatten auch mehr Zeit, Geduld und Lebenserfahrung. Wenn sie und Ferdinand zusammenziehen würden, müsste eine Paarwohnung eingerichtet werden. Allein das Doppelbett würde bestimmt schon fünfundzwanzig Striche kosten. Sie beide hatten sich gelegentlich schon so manche begehrte Dinge geleistet wie einen ganzen Grünkohl oder eine Obsttorte und hin und wieder sogar eine Melone. Sie hatten nämlich das Glück, sich richtig zu lieben und daher oft zusammen sein zu wollen – nur wenigen Paaren in der Stadt ging es so wie ihnen. Nicht, dass andere Städter mit häufigem Partnerwechsel unglücklicher wären, aber trotzdem hatte Fritzi das Gefühl, ein besonderes Glück zu erleben, das man auch besonders feiern sollte, z.B. mit einer schweren, saftigen Melone. Die Anzahl der Striche auf den Wertkarten kann man sich ja teilen. Aber das mit dem Doppelbett musste sie noch mal überdenken.


    Fritzi verschloss die Wohnungstür hinter sich und hüpfte mit den sportlichen Lederschuhen der Kutscher die steinernen Stufen ihres Wohnblocks hinab. „Was wäre, wenn ich jetzt eine Stufe verfehlte und hinfallen würde?“ Noch nie hatte sie davon gehört, dass dem Körper etwas Unangenehmes zustoßen könnte. Wenn einem innerlich nicht wohl war, das konnte ja hin und wieder mal vorkommen, konnte man zu den Menschenversorgern des Innern bei den Abendzerstreuungen gehen. Aber was täte man bei einem Treppensturz? Doch ehe sie Lust bekam, es auszuprobieren, erreichte sie den gepflasterten Vorplatz der Einzelwohnungssiedlung und wandte sich dem blauen, warmen Himmel entgegen, der ihr wie jeden Morgen ins Gesicht lachte.


                                                                                                                II

 

Ein ungeduldiges Scharren, das das wartende Paar mit seinen Füßen auf dem Kutschenboden erzeugte, erinnerte Fritzi daran, ihrer Pflicht nachzukommen. Eben hatte der Öffentlichkeitskoordinator ihr die Fahrgäste zur Beförderung zugewiesen. Fritzi verabschiedete sich von dem hageren, aber sehr sympathischen Einspringer, der die Schimmel vor das Fahrzeug eines Kollegen spannte.
„Zum Stadtteilverwalter dieses Stadtteils, bitte“, drängte die Frau mit einem gewinnenden Lächeln. Eine solche Eile hatte Fritzi selten erlebt und nahm verwundert Kurs auf die Florastraße. Im Laufe der Fahrt stellte sich heraus, dass das Paar aus dem Randgebiet der Stadt stammte und innerhalb kurzer Zeit alle dreiundzwanzig Stadtteilverwalter aufsuchen wollte, um eine sehr dringende, konspirativ anmutende Botschaft zu überbringen. „Ihre geschmackvolle Kleidung passt überhaupt nicht zum Berufsstand der Botengänger“, wunderte sich Fritzi. Als die Kutsche gerade in die Fabrikallee einbog, zuckte der Begleiter der eiligen Dame plötzlich zusammen und zog den Kopf zwischen die Schultern, als wollte er einem angreifenden Vogel ausweichen. Ängstlich wies er seiner Partnerin den Blick auf einen tiefhängenden Blumenkasten. Den Grund für seine Verängstigung vermutete Fritzi in der Feststellung, dass die Wickengewächse im Kasten vollständig verblüht waren und ihre sonst so strammen Rückgrade schlaff herabhingen. In der Tat hatte Fritzi in der ganzen Stadt noch nie verblühte Pflanzen gesehen, mit Ausnahme von abgeernteten Getreidefeldern oder abgeschnittenen Blumenstängel, da die Blüten für Sträuße benötigt wurden.  Es ist eine interessante Frage, was mit vergehenden Pflanzen geschah. In der Stadt sah man sonst nur blühende und grünende Natur. Der Fahrgast hielt eine Aufklärung für notwendig und beugte sich zu Fritzi vor auf den Kutschbock: „Ich habe aus dem Grund eine wichtige Nachricht für Ihren Stadtteilverwalter Franz, weil derjenige meines Stadtteils es als angeraten betrachtet, über die gegebenen Umstände mit seinen Kollegen zu beratschlagen. Da sein Botengänger schon seit einigen Tagen ausfällig ist und er selbst mit der Organisation von Arbeitsvertretungen, derer es bei uns einige in der letzten Zeit gab, zu beschäftigt ist, um diesen Botengang auszuführen, hat er mich und seine Cousine Ursula darum gebeten. Ich bin zwar nicht in Kenntnis darüber gesetzt worden, was die Unruhe auslöste, habe jedoch ein ungutes Gefühl und gehe von einer Veränderung ungekannter Stärke und Geschwindigkeit aus.“ Er hielt inne, um durchzuatmen, beugte sich noch ein Stück weiter zu Fritzi  und fuhr einen Tick leiser geheimnisvoll fort: „Falls es Sie interessiert, ich bekomme leichte Veränderungen schon seit längerem zu spüren. In meiner Berufung als Menschenversorger habe ich in den letzten Wochen Berichte gehört, die die Menschen derart beunruhigen, dass sich bei ihnen Ess- und Verdauungsstörungen ergaben. Ein junger Mann konnte sogar einmal erst zwei Stunden nach Sonnenuntergang einschlafen. Ihm seien bei einem Besuch im östlichen Randgebiet Verdunkelungen des Himmels aufgefallen und die Luft habe sich auf einmal bewegt, sodass ihm die Haare ins Gesicht geweht worden seien. Und überdies habe er keinen Vogel mehr singen hören können. Ein anderer junger Mann, ein Pflanzenversorger, berichtete von Kohlgemüse, das durch eine Überwässerung völlig ungenießbar geworden sei. Er selbst könne sich nicht erklären, wo all das Wasser im Boden hergekommen sei. Sie können sich denken, dass ich mit dieser Situation überfordert bin und das Vorhaben einer gesamtstädtischen Zusammenarbeit und eines Erfahrungsaustausches für dringend geboten halte.“ Das Gesicht des Mannes zeigte rote Flecken und er ließ sich wie ein nasser Sack auf seinen Sitz zurückfallen. „Nun sag ihr schon, Ulli, dass in den Verwaltungskreisen von einem über der Stadt heraufziehenden Sturmes gesprochen wird, dessen Anzeichen nicht mehr zu übersehen sind“, forderte Ursula und schubste Ulli dabei sanft mit dem Ellenbogen. Ihre Stirn lag in Falten, es war nicht zu erkennen, ob sie Ungeduld, Mitleid oder Besorgnis ausdrücken wollten. „Aus diesem Grund müssen alle Stadtteile informiert sein, denn im Falle eines tatsächlichen Eintretens kann die Katastrophe nur durch geschlossene und gezielte Vorbereitung verhindert werden“, beeilte sie sich, zu Fritzi gewandt, zu ergänzen. Die Frau aus dem Einundzwanzigsten Stadtteil strahlte eine Art missionarisches Siegesbewusstsein aus. Doch Fritzi bezweifelte, dass sie auch nur den Schimmer einer Idee hatte, wie solche Aktionen aussehen würden.

Fritzi erinnerte sich an ein Buch von Renatus, in dem er von einer Insel erzählte, auf der seltsame schwarze Vögel gesichtet wurden, die der Autor als Vorboten des Bösen inszenierte. Kurz darauf wurde das blühende Leben auf der Insel durch starke Luftbewegungen und ungeheure Wassermassen, die vom Himmel fielen, hinweggefegt, bis die Insel schließlich in den Wassermassen unterging. Andere Kutschenfahrer waren sehr angetan von dieser Erzählung und hatten sie ihr empfohlen. Aber schon nach wenigen Seiten hatte sie das Buch weggelegt, es war einfach zu befremdlich.

In der Florastraße angekommen, ließ Fritzi ihre Fahrgäste aussteigen und sah ihnen zu, wie sie in der Vorhalle des schlichten Verwaltungsgebäudes verschwanden. „Waren ihre fremdartigen Kleider, so glatt und von dunkler Farbe, nicht schon seit Wochen nicht mehr in Mode?“, überlegte sie geistesabwesend. Sie zog die Zügel straff und lenkte die nimmermüden Pferde zurück zum Sammelplatz.

Was sollte sie von diesem Auftritt halten? Fritzi warf einen Blick in den stillen, blauen Himmel. Sie war nicht weiter beunruhigt. Denn solange sie lebte, hatte sich in der Stadt noch nichts Außergewöhnliches ereignet. Eine Katastrohe, wie sie Ursula heraufbeschwor, war im Grunde undenkbar. Woher sollte ein Sturm kommen und zu welchem Zweck? Heute Abend würde sie mit Ferdinand über eine aussichtsreiche Zukunft beratschlagen. Ihre gemeinsame Tochter sollte eine schöne Kindheit haben. Später könnte sie das Instrument, das sie spielen lernen wollte, frei wählen und ihre Berufung ebenso. Es würde alles in den gewohnten Bahnen ablaufen.

Die unübersehbare Anzeigentafel auf dem Sammelplatz kündigte mit ihren hellblauen Blinklichtern das baldige Mittagessen an. Da drängte ein älterer Mann mit einem Kind auf dem Arm in Fritzis Kutsche. Er verlangte, zur Totenverbrennungsanlage im Dreiundzwanzigsten Stadtteil gefahren zu werden. Dorthin hatte Franzi noch nie eine Fahrt gemacht. Aber was kümmerten sie die Ziele ihrer Fahrgäste? 

  •                                                                                                     III

  • Während der Rückfahrt malte sich Fritzi die bevorstehende Mahlzeit aus. Ein Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab. Am Quintimus gab es Eierspeisen mit Gemüse. Fritzi hoffte, dass das geschätzte Omelette heute wieder dran wäre. Außerdem wollte sie beim Essen ihre Pläne mit ihrer Freundin Fanny besprechen.
  • Eine Stunde später schlängelte sich Fanny mit ihrem Nachtisch durch die geschäftige Masse von Kantinenbesuchern und steuerte, elegant mit ihren schlanken Hüften ausweichend, den Tisch der Freundin an. Fritzi fand, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen wäre, ihre Zukunftspläne anzusprechen. Ihre Freundin hatte eben so blumig von einem Liebestreffen letzten Sekundus mit einem wirklich netten Mann erzählt und sie konnte sich diesmal vorstellen, dass daraus eine längere Partnerschaft erwachsen würde. Sie hatte schon mit vielen attraktiven Männern verkehrt und auch schon zwei Kinder geboren. Eine längere Beziehung und vielleicht sogar ein gemeinsames Wohnen stellte sie sich jedoch sehr romantisch vor. Sie wusste immer, was sie wollte! Fanny würde ihr sicher den richtigen Rat geben können. Fritzi wollte gerade zu reden ansetzten, als sie mit einem Mal ein tiefes Dröhnen vernahm, welches von einer wabernden schwarzen Wolke begleitet wurde. Für den Bruchteil einer Sekunde verfinsterte sich der Esstisch, die verschmierten Tabletts verschwanden in einem undurchdringlichen Nebel, der ihr das Bewusstsein rauben wollte. Sie bemühte sich schnell um Besinnung und entspannte sich leicht, als sie feststellte, dass ihr Tablett die Essensreste nicht berührt und seine übliche Form und Farbe wiedergewonnen hatte. Im nächsten Augenblick war sie sich auch schon nicht mehr sicher, ob sie sich die Erscheinung nur eingebildet hatte. Als sie zu Fanny aufsah, verlor sie ihren Mut jedoch gleich wieder. Das Gesicht ihrer Freundin hatte seine gesunde Farbe verloren und zeigte eine fremdartige empörte Verhärtung. Ein Schatten hatte sich ausgebreitet und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, dass sie sich über der Nasenwurzel beinah berührten. Sie legte ihr Besteck unsicher auf den zur Hälfte geleerten Teller. Noch bevor Fritzi einen Laut äußern konnte, begann sie mit gedämpfter Stimme: „Stell dir vor, als ich mir heute Morgen in Franzis Laden an der Ecke meine Vorräte auffüllen wollte, tauchte in einem Sack mit gemahlener Hirse ein ekelhaftes Insekt auf, das mir, als wäre es der Frechheit nicht genug, über die Hand krabbelte. Ich werde nie wieder Hirse essen! Das Seltsame aber war, dass ich auf einmal ein Würgegefühl in der Kehle hatte und mein Körper unkontrolliert zu zucken begann.“ Es durchfuhr sie ein leichtes Frösteln. Fritzi blieb ein Stück Eierkuchen im Hals stecken, sodass sie kräftig husten musste. „Und auf dem Weg zur Fleischerei sah ich zwei riesenhafte Vögel mit schwarzen Federn“, flüsterte Fanny immer tonloser, „sie hatten kleine Tiere im Schnabel, die sie plötzlich mit einem schrillen Schrei zu Boden fallen ließen. Es waren Mäuse oder Eichhörnchen. Dumpf schlugen sie auf dem Pflaster auf und blieben reglos liegen. Da machen die Ungeheuer auf einmal kehrt und fliegen geradewegs auf mich zu.“ Mit weit aufgerissenen Augen hauchte sie die letzten Worte nur noch. Sie musste erst mal tief Luft holen, bevor sie weiter reden konnte. „Das hier wird mich noch lange daran erinnern.“ Sie zog die Träger ihres dunkelblauen Overalls zur Seite. Zum Vorschein kamen tief ins Fleisch eingedrungene Kratzer, die von scharfen Klauen stammten. Geronnenes Blut verklebte ihr weißes Hemd. Entsetzt lehnte sich Fritzi zurück. An ihrem Lieblingsessen hatte sie jeden Geschmack verloren. Küchenhelfer gingen durch die Reihen und sammelten das Geschirr ein. Die beiden Frauen schoben ihre Teller zur Rücknahme bereit an den Tischrand. Fritzi war zu verwirrt, um ihrer Freundin Trost spenden zu können. Ob Fanny es von ihr erwartete? Sie fühlte sich hilflos und hätte gerne selbst Beistand erhalten. Weder sie noch Fanny konnte sich die Geschehnisse erklären. Sie verabredeten sich wieder für die kommende Woche und verabschiedeten sich in gegenseitiger Versicherung, dass sich alles aufklären und zum Guten wenden würde. Was sollten sie auch sonst tun?

     

                                                                                                                 IV


    Der Nachmittag verlief ohne größere Zwischenfälle, bis auf eine kurzzeitige Verdunkelung der Sonne durch eine dichte Wolke, die sich aber bald wieder verzog. Ein kräftiger, sonnengebräunter Gebäudebauer, den Fritzi zum Aussichtspunkt des Sonnenberges brachte, bemühte sich um ein Liebestreffen mit ihr. Es tat ihr sehr Leid, ihn zurückweisen zu müssen, doch der Gedanke an Ferdinand vertrieb jede Verlockung. Schade eigentlich, denn Gebäudebauern wurde wegen ihrer erschöpfenden Arbeit eine große Strichkapazität zugewiesen!

    Als sie zu Hause angekommen war, überprüfte sie die ihr verbleibenden Striche im Verzeichnis - sie würde bis Wochenende etwas sparsamer haushalten müssen - und ordnete die Vorräte für die kommenden Tage. „Morgen unbedingt Toiletten- papier und Honig besorgen“, notierte sie im Gedächtnis. Nach Erledigung der nötigen Hausarbeit, nahm Fritzi ihr Cello mit einer schwungvollen Bewegung in den Arm und fuhr zärtlich mit den Fingern die Saiten entlang. Sie nahm den Bogen und stimmte Carlos‘ Fuge in E an. Doch die Klänge gerieten ihr etwas zu leidenschaftlich. Die Pferdehaare kratzten mit zu viel Druck über die Saiten. Es wollte ihr nicht gelingen, Zugang zu der Schwingung zu finden, die sie sonst immer so schnell gefangen nahm. Nachdem sie das Stück dreimal versucht hatte, ohne mit dem Ergebnis zufrieden zu sein, fiel ihr der Bogen wie eine schwere Last aus der Hand und sie merkte, wie erschöpft sie heute war.

    Die Anzeigentafel im Hof wies auf das Abendessen hin, doch Fritzi hatte keinen rechten Appetit. Zu allem Überfluss war der begehrte Honigtopf leer. Sie legte sich für einen Moment aufs Bett und schloss die Augen.  „Das würde teuer werden“, stöhnte sie und überschlug die Kosten für einen neuen Topf und die anfallenden Anschaffungen in einer Paarwohnung. Honigtöpfe waren groß und schwer, noch größer und schwerer waren Doppelbetten.

    Gerne wäre sie noch eine Weile so liegen geblieben, nur bis die Welt ihre urtümliche Ordnung wiedererlangt hätte. Doch es half alles nichts. Zerstreuungstreffs beginnen pünktlich und Fritzi hatte keinen kurzen Weg zum Bürgerzentrum. Sie klemmte sich das Cello unter den Arm und zog hinter sich die Tür zu.

    Heute schienen besonders viele Leute auf das Gelände des Bürgerzentrums im Dritten Stadtteil zu strömen, um an den Zerstreuungen teilzunehmen.  Das Tanzensemble hatte sein Programm bereits begonnen, in der Curiosus-Halle wurden die Notenblätter für die heutigen Gesangsübungen der Raphaelschen Hymnen verteilt und in dem hinter der Großen Halle gelegenen Freudenpark nahmen neuangesponnene Liebesbeziehungen ihren Lauf. Die reizvollste Zerstreuung, fand Fritzi, war und blieb das Melonenessen. Doch eine kurze gedankliche Abwägung – Melone gegen Honigtopf – ergab, dass sie solch ein Vergnügen in unabsehbare Zukunft verschieben musste. Sie bog um die Absperrung der Tanzfläche herum und betrat die Kleine Curiosus-Halle, in der die Geschichtenerzähler bereits Posten bezogen hatten und einige Zuhörer sich um sie scharten. Das Publikum bestand zum größten Teil aus Erwachsenen mit ihren Kindern, denn die Geschichten erhielten auch immer Lehrreiches über die Ordnung der Stadt und überhaupt über die Schönheit der Welt. „Die Eltern-Kind-Zusammenführung ist einer der schönsten Einfälle der Stadtverwaltung“, dachte Fritzi im Vorbeigehen. Sie umging die geschäftigen Aufbauarbeiten des Spieletreffs, der an den Quintimusabenden immer in der Konzerthalle stattfand, und betrat den Seiteneingang zum Konzertsaal. Schon von weitem sah sie Ferdinand, wie er seine Flöte putzte. Von plötzlicher Sehnsucht übermannt, stellt sie ihr Cello eilig ab und warf sich in seine Arme, ohne dabei Rücksicht auf seine Tätigkeit zu nehmen. Ferdinand rührte dieser ungekannte Ausbruch und er strich ihr anerkennend und beruhigend über den Rücken. Erst nach endlosen Augenblicken lockerte sie ihre Umarmung und ließ Ferdinand mit zerknittertem Hemd zurück, um schnell ihren Platz im Orchester einzunehmen. Die Konzerte begannen pünktlich um zwanzig nach acht.

    Nach den letzten Curiosus-Variationen von Linus erhob sich ein begeisterter Applaus der zahlreichen Zuhörer, der selbst den erfahrenen Dirigenten überraschte. Es war kurz nach neun und die Sonne war bereits dabei, sich mit ihren letzten Strahlen von der Stadt zu verabschieden. Das gesättigte Publikum verschmolz träge mit der übrigen Menge. Fritzi schlug den einen Arm um ihr Instrument, den anderen um ihren Gefährten und führte ihn in den angrenzenden Stadtgarten. Ferdinand, von Fritzis neuartigen Bestürmungen überwältigt, gab sich ihrem Sog gerne hin und folgte ihr wie ein braver Hund. Nach Sonnenuntergang begegnete man nur noch wenigen Promenierenden, doch die Laternen ermöglichten einen Spaziergang auch noch zu später Stunde. Ohne Umschweife kam Fritzi auf ihr Anliegen zu sprechen. Sie gab zu bedenken, dass sie sich bei einem gemeinsamen Haushalt zu dritt häufiger lieben konnten, wodurch auch die Möglichkeit zu einem weiteren Kind gegeben wäre. Ferdinand blieb unvermittelt stehen und sah sie von der Seite verständnislos an. Es kam selten vor, dass Paare mehrere Kinder miteinander hatten. Als außergewöhnlich aufzufallen, war ihm unangenehm. Er nahm sein Ruder wieder selbst in die Hand und meinte mir fester Stimme: „Liebes, wir sind schon recht lange zusammen und ich möchte jetzt gerne mal wieder mit einer anderen Frau zusammenkommen.“ Sanft löste er sich aus der Umarmung seiner sprachlosen Freundin.

    Es herrschte schon lange tiefe Dunkelheit, als Fritzi die Stufen zu ihrer Wohnung erklomm. Oben angekommen überkam sie mit einem Mal ein Würgen. Sie wusste, dass einem bei sehr unangenehmen Empfindungen Wasser aus den Augen laufen kann, um das Gefühl wegzuschwemmen. Es sei Leuten angeblich schon passiert. Zweifellos war sie in der entsprechenden Verfassung und hoffte auf eine anständige Überschwemmung. Aber nichts dergleichen geschah. Nur der Kloß im Hals erinnerte sie an ihr Unglück. Selten war sie so verwirrt gewesen. Die himmelblauen Buchstaben der Anzeigentafel blinkten in vertikalen Abläufen immer noch ihr behutsames „Gute Nacht!“. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt. Über die Traurigkeit vergaß sie alle anderen Ereignisse des Tages.
    Trotz der weichen Kissen mit Lavendelduft konnte sie keinen Schlaf finden. Zum Glück fiel ihr das philosophische Werk ‚Die Notwendigkeit der Aufgabenteilung‘ von Renatus ein. Sie nahm das Buch und überschlug einige Kapitel. Ihr Wertesystem bestätigt zu finden, beruhigte sie. „Renatus hat wirklich einen klaren Blick für die Dinge“, dachte sie und blies die Kerze aus. Endlich fand sie, zwei Stunden später als gewöhnlich, in den Schlaf. 


                                                                                                            V


    Am Sextimus erwachte wie jeden Morgen um sieben Uhr eine strahlende Sonne am Horizont. Fritzi aber erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Der Duft des kernigen Brotes, der von den Aufbackapparaten im Hof emporstieg, glättete ihre Verstimmung. Sie nahm die ihr zugeteilte Portion freudig in Empfang. Frische Milch stand auch schon im Flaschenzug bereit. Sie zog das Seil herein und wickelte es um die Spule neben dem Fenster. „Wie war es eigentlich um die Nachtruhe der Verteiler der frischen Lebensmittel bestellt?“, fragte sie sich und zum ersten Mal empfand sie so etwas wie Mitleid. Diese Angelegenheit verlangte ihr jedoch zu viel Gedankenarbeit ab, sodass sie sich ihrem Frühstück zuwandte und das noch dampfende Brotstück mit Butter bestrich. Die Milch bescherte ihr einen kitzelnden Milchbart, den sie genüsslich ableckte. Sie streifte sich ihre Uniform über und sammelte ihre Ringe ein, die verstreut in der Wohnung herumlagen. „Ist schon komisch“, sann sie, „die kleinen Dinger sind doch so schön und man hat so lange etwas von ihnen und doch sind sie so leicht zu bekommen.“ Als sie merkte, dass sie den Kopf schüttelte, besann sie sich sofort und gemahnte sich selbst die Logik dieser Ordnung. Es ging nicht darum, welche Freude einem ein Ding bescherte, sondern um Größe und Gewicht. Dies waren objektive, für jeden nachvollziehbare Werte. Sie staunte wieder einmal über die Überlegenheit der Städtischen Vernunft. Ihr Jugend- freund Konrad hatte sich schließlich von seiner letzten Gefährtin getrennt, da man sich über die Stricheverteilung für den neu anzuschaffenden Doppelesstisch nicht einigen konnte. Na ja, so läuft das eben!  Mit einem Mal war ihre Stimmung wieder umgeschlagen. Griesgrämig ließ sie die Tür hinter sich zufallen. „Immerhin hatten die beiden den Entschluss gefasst, zusammenzuwohnen“, brummte sie vor sich hin.  Diese Lebensform war gar nicht so ungewöhnlich, wie Ferdinand ihr gestern weismachen wollte. Sie würde ihm heute noch von Konrad erzählen. Unten im Hof erschien es ihr kälter als sonst und sie lief noch mal nach oben, um ihre dunkelblaue Weste zu holen.

    „Könnten Sie kurz anhalten?“, bat der ältere Herr mit den großen Tränensäcken. Das Pferd gehorchte sofort auf die gestrafften Zügel. Der Mann stieg vom Wagen, ging in die Knie und prüfte die Qualität des Bodens. „Aha“, sagte er fachmännisch und zerrieb einen Erdklumpen  zwischen den Fingern. Zufrieden nahm er wieder Platz und brummte während der restlichen Fahrt in Versunkenheit vor sich hin, sodass er das falkenähnliche Tier nicht bemerkte, das auf dem Dach des Kinderheimes „Sonnenblume“ im Neunzehnten Stadtteil saß und sein farbloses Gefieder durchstocherte. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich der Vogel als mindestens doppelt so groß wie ein Falke. Fritzi sah ihm fasziniert nach,  nachdem sie ihren Fahrgast abgeliefert und kehrt gemacht hatte.

    Mit einem großen Honigtopf unterm Arm winkte Fritzi dem Pferdeversorger zum Abschied zu. Auf dem Heimweg fuhr ihr ein kräftiger Wind durch die Harre, so dass sie wild in der Luft tanzten. Sie schüttelte belustigt den Kopf hin und her, um das ungewohnte Empfinden noch mehr auszukosten. Als sie den Kopf zurückwarf, erblickte sie dunkle Schatten am Horizont. „Die Sonne geht heute recht früh unter“, dachte sie, „was ist schon dabei?“ Sie hatte darauf verzichtet, mit Ferdinand zu sprechen. Es kam ihr aufdringlich vor. Aber trotzdem war sie entschlossen, ab sofort mehr Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen. Schließlich wird man nur siebzig Jahre alt! Der Gedanke, dass ein Familienangehöriger sie zur Totenverbrennung bringen würde und nicht ein Einspringer, der für alle unregelmäßigen Arbeiten eingespannt wurde, hatte etwas Beruhigendes.

    Zu Hause fand sie einen Brief von ihrem Vater vor, der sie am nächsten Sekundus besuchen wollte. Das traf sich prima, wer weiß, wie oft es noch eine Gelegenheit dafür geben würde? Damit der inzwischen stärker gewordene Wind die Vorhänge nicht mehr länger aufblähte, schloss Fritzi die Fenster. Im  Hof musste die Tafel umgefallen sein. Sie konnte in dem plötzlich aufgezogenen dichten Dampf die Umrisse des Baggerhäuschens neben dem Kellerzugang gerade noch so erkennen. Schwarze Wolken hatten den Wind begleitet, die jetzt den gesamten Himmel bedeckten. „Dann wird es tatsächlich einen Sturm geben“, ging es ihr, als sie sich in die Kissen kuschelte, durch den Kopf. Sie deckte sich bis über beide Ohren zu.

          
                                                                                                             VI
     
    Der bellende Laut des Weckers riss Fritzi pünktlich um sieben Uhr bei Sonnenaufgang aus dem Schlaf. Sie reckte die Glieder. Sie hatte ausgezeichnet geschlafen und schwang sich mit beiden Beinen gleichzeitig aus dem Bett. Heute würde sie Jasmin holen. Sie zog die Vorhänge zur Seite, um das Licht hereinzulassen. Doch draußen schien eine fahle Sonne, deren gedämpftes Licht von einigen Nebelschwaden durchzogen schwer über der Stadt lag. Am Himmel hing ein dunkler Wolkenteppich, der stellenweise massige schwarze Ballen aufwies. Sie schienen sich jedoch kaum zu bewegen. Ebenso schien das Leben in der Stadt stillzustehen. Vergeblich suchte Fritzi nach den leuchtenden Zeichen der Anzeigentafel, doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Auf der Straßenseite des Platzes lagen umgestürzte Bäume, deren Laubwerk derart durcheinandergewirbelt war, dass man den Eindruck eines überdimensionierten Komposthaufens bekam. Auf der anderen Seite konnte Fritzi undeutlich das Baggerhäuschen ausmachen. Sein Ziegeldach war abgedeckt und das Holzgerüst von einem dicken Baumstamm in der Mitte zerschlagen. An einer der marmornen Bänke am Spielplatz hatte sich ein großes, unkenntliches Stück Stoff verfangen, das hilflos im Wind flatterte. Der Rasen, der das gesamte Gelände überzog, zeigte Spuren eines Kampfes, war aufgeworfen und überschwemmt von Feuchtigkeit. Der Boden hatte sich dagegen gewehrt, so viel Wasser aufzunehmen. Es sah daher aus, als würde ein großer grüner Schwamm ausgedrückt, an dessen widerstand- ärmsten Stellen die Flüssigkeit austrat.

    Fritzi öffnete die Türe und trat auf den Balkon hinaus. Sie ließ ihren Blick über die Fassaden gleiten. Von einigen der symmetrisch angeordneten Appartements der Einzelwohnungssiedlung war das Balkongeländer herabgestürzt, an den wenigsten hingen noch Blumenkästen. Auf manchen Balkonen saßen oder standen Bewohner mit geweiteten Augen und sahen verzweifelt auf das Durcheinander, das der Sturm angerichtet hatte. Doch als Fritzi zu ihrer Nachbarin Feli hinübersah, durchfuhr sie zum ersten Mal an diesem Morgen ein wirklicher Schrecken: Der Balkon stand unversehrt, doch die Fensterscheiben waren zertrümmert worden. Rings um das sonnenförmige Loch lagen Glasscherben und Splitter. Es musste ein schwerer Gegenstand gewesen sein, der eine solche Zerstörung bewirken konnte. Was war mit Feli geschehen, hatte sie es schon bemerkt? Zweifelsohne konnte sie den Lärm  nicht überhört haben. Oder war sie heute Nacht nicht zu Hause gewesen? War ihr vielleicht etwas zugestoßen? Fritzi zog sich augenblicklich an und klingelte bei ihrer Nachbarin. Erst beim dritten Klingeln öffnete sich die Tür. Als Feli sie sah, lächelte sie bemüht, gab der Tür einen Stoß und sah ausdruckslos zu, wie Fritzi in die Wohnung trat. Es zog kräftig. Die Vorhänge blähten sich bauchig auf. Fritzi knöpfte sich ihr Hemd zu und schlug den Kragen hoch.  Die Scherben lagen unangetastet auf Boden und Möbel verstreut. „Du bist noch nicht unterwegs?“, stieß Feli hervor und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte sie hinzu: „heute bin ich arbeitslos. Die Felder des Frauenhains sind verwüstet worden. Frank meinte eben am Fernsprecher, der größte Teil der Gemüsebeete sei verwüstet worden. Er müsse erst mal nachdenken, wie es weitergehen solle. Außerdem stehe sein Keller unter Wasser. Gartengeräte, Spielsachen, Teppiche, alles sei durch die Feuchtigkeit unbrauchbar geworden. Er habe schon den ganzen Morgen damit verbracht, das Wasser abzuschöpfen.“ Feli musste schlucken. Sie gab sich alle Mühe ihren Halbbruder Frank als tapfer und unerschütterlich darzustellen. Aber es war unverkennbar, dass sie um Fassung rang. Verglichen mit diesem Drama waren die zerbrochenen Fensterscheiben nicht mehr als eine Störung des Gesamteindrucks. Als eine ratlose Stille eintrat, schlug Fritzi vor, Feli könnte ja heute mal bei ihr frühstücken. Dankbar folgte sie Fritzi in ihr Apparte- ment. Jetzt erst bemerkte Fritzi das flaue Gefühl in der Magengegend. Nichts kam ihr jetzt begehrenswerter vor als ein frisches, mit Honig bestrichenes Brot. Welch ein Glück, dass sie gestern an den Topf gedacht hatte! Das Fernsprechgerät meldete ein Anruf von sieben Uhr vierunddreißig. Doch Fritzi hatte jetzt andere Sorgen, um sich damit zu beschäftigen und machte sich an die Frühstücks- vorbereitungen. Wie in manchen Welten Priester die Monstranz mit umwickelten Händen aus dem Tabernakel nehmen, um sie der ehrfürchtigen Gemeinde zu präsentierten, stellte sie das bernsteinfarbene Heiligtum mit einer bedeutungsschweren Geste auf den Küchentisch, als könnte sie mit dem geweihten Saft böse Geister vertreiben. Doch als sie in Felis dunkle Augen blickte, sah sie etwas, was sie noch nie gesehen hatte: unverkennbare, gelöste Enttäuschung.

    Vor lauter Dankbarkeit konnte sich Feli kaum rühren. Nur die Tränen liefen ihr unaufhörlich in die Mundwinkel. Ihr bitterer Geschmack brachte sie nicht auf den Boden der Tatsachen zurück, sondern verstärkte die Verwirrung. Was war bloß geschehen? Es war unzweifelhaft eine Katastrophe, die sich über der Stadt ereignet hatte. Langsam griff Feli nach dem Milchglas, das Fritzi ihr reichte. Der vertraute mild-süßliche Geschmack tröstete sie, bis sie wieder zu Worten fand: „Fritzi, was ist heute Nacht passiert? Wieso hat niemand etwas mitbekommen? Ich … ein solches Chaos! Aber es ist auch ein großes Glück, in deiner Nähe zu wohnen, dessen bin ich mir jetzt bewusst. Wie ein Engel hast du mir heute Morgen geholfen!“ Fritzi lief es heiß den Nacken hinab. Beschämt und hilflos wandte sie sich ab. Sie überforderte das Gefühlsgemisch, das sie überschwemmte: Entsetzen und Verzweiflung, aber da war auch eine große Freude!

    Nach dem Frühstück begleitete sie Feli über den Hausflur. Mit einer kräftigen Umarmung wurde sie entlassen. Um den Schaden in ihrem Zimmer musste sich Feli alleine kümmern, was Fritzi ein schlechtes Gewissen bescherte, doch sie musste ihre Aufgabe erfüllen und war schon eine Stunde im Verzug. Was es auf dem Kutschensammelplatz wohl für Diskussionen geben wird? Sie nahm die letzten Stufen – wie so oft – mit einem Schritt. Sie verschätzte sich jedoch, der Fuß knickte um und sie schrie laut auf. Verwundert bleib sie stehen und betastete ihren verletzten Fuß. Unter der Haut pochte es und sie konnte ihn nur noch unter Schmerzen bewegen. Sie war von dieser neuen Erfahrung jedoch so sehr überrascht, dass sie den Schmerz kaum wahrnahm. Verunsichert fragte sie sich, ob man, wenn man langsam gehen würde, sich trotzdem verletzte? Oder wenn es plötzlich dunkel wurde und man nicht mehr sehen konnte, wo man seinen Fuß hinsetzte? Ober wenn die Stufen rutschig wären und man nicht genügend Halt finden könnte? Oder wenn sie plötzlich doppelt so groß wären? Oder wenn… Fritzi drehte sich der Kopf. Sie hatte an diesem kurzen Tag heute schon so viele Gefühlszustände durchlaufen, dass sie ganz verwirrt war. Im Augenblick fühlte sie sich einsam und verloren.

     

     
                                                                                                         VII



    Am Kutschensammelplatz trat ihr überraschenderweise Ferdinand entgegen. Er sah fremd aus, unrasiert und er hatte aufgequollene, umschattete Augen. Seine Kleider rochen unangenehm.  Sein Mund bewegte sich lautlos einige Male, dann warf er sich wimmernd in Fritzis Arme. „Jasmin ist tot“, stieß er von Schluchzern geschüttelt hervor. „Ein Scherz, oder eine Verwechslung, ein Miss- verständnis!“,  ging es ihr durch den Kopf. Doch sie wusste gleich, dass sie sich nicht verhört hatte. Jasmin war heute Nacht  im Sturm umgekommen. Ein flammender Kloß ballte sich in ihrer Brust zusammen und wanderte nach oben, um in der Kehle steckenzubleiben. Schlagartig löste sie sich von ihrem Freund. Er kam ihr plötzlich lächerlich und klein vor in seinem Leid. „Wo ist sie?“, fragte sie. Doch Ferdinand war viel zu sehr mit sich beschäftigt, um zu antworten. Ihr erster Gedanke war die Totenverbrennungsanlage, doch sie besann sich. Sie schirrte eines der Pferde ab, schwang sich ungeachtet des schmerzenden Fußes auf dessen Rücken und gab ihm die Zügel.

    Der Schlafsaal des Kinderheims im Zehnten Stadtteil lag in Trümmern. Aus der Mitte des Gebäudes stiegen Flammen auf. Fritzi sah, wie einige Anwohner in einer langen Reihe große Gefäße mit Wasser von Hand zu Hand reichten, um es in die Flammen zu gießen. Die spärlichen Wassergüsse knisterten und zischten kurz auf, als würden sie den verzweifelten Bemühungen spotten, um darauf gleich wieder von den Flammen aufgefressen zu werden. Das Feuer züngelte ungehindert wieder in die Höhe, forderte sein Recht auf Zerstörung. Einer der Wasserträger fuhr sich mit dem Unterarm übers Gesicht. Feuchtigkeit und Schmutz blieben am Ärmel hängen. Waren es Tränen oder war es Schweiß? Fritzi fragte ihn, ob er wüsste, wo die Kinder und Alten des Heimes wären. „Alle evakuiert, in den Hort des Neunten Stadtteils“, antwortete er knapp. „Vier Kutschen haben sie vor einer Stunde abgeholt.“ Der unbekannte Anruf von heute früh, ging es Fritzi durch den Kopf. Es war die Anfrage des Arbeitskoordinators nach Kutschern gewesen. Der schwitzende Mann fügte mit erstickter Stimme hinzu: „Eine Kutsche hatte einen Anhänger mit flacher Ladefläche, auf der sie die Körper stapeln konnten.“  Eiskalt durchlief es sie. Sollte ihre Tochter darunter sein?  Wie konnte sie jetzt schon sterben, wo ihr doch noch vierundsechzig Jahre zustanden? Obwohl sich tief in ihrem Innern die Gewissheit bereits eingenistet hatte, wollte sie sich Klarheit verschaffen und dirigierte ihr Pferd in den Dreiundzwanzigsten Stadtteil. Die Schornsteine der Totenverrennungsanlage liefen auf Hochtouren, sie gaben dichten, schwarzen Rauch von sich. Eine kleine Menschenmenge verhandelte vor dem Tor mit dem Koordinator der Leichenverbrenner. Dieser wirkte sehr erhitzt, gestikulierte wild mit den Armen und sein halbnackter Oberkörper war schon ganz rot von der Anstrengung. In der Menge erspähte Fritzi Ferdinand. Er brüllte jedoch nicht wie die anderen auf den Mann ein, sondern blickte stumm vor sich hin und ließ sich von den Bewegungen hin und her schubsen. Fritzi zog ihn zur Seite: „Wie konntest du wissen, was mit ihr passiert ist?“ „Jakob hat berichtet“, begann er, „wie er sah, dass Jasmin zusammen mit zwei anderen Kindern versucht hatte, sich aus dem Schlafsaal durch die Tür zu retten, die in die Wäsche- vorratskammer führte. Im dichten Rauch konnten die Kinder weder Richtung noch Ausgänge unterscheiden und hatten daher die nächstbeste Tür geöffnet.“ Er stockte kurz, ehe ihn ein seltsamer Eifer ergriff: „Kurz nachdem die Kinder in den Raum gestolpert waren, brach der Türbalken ein und mit ihm stürzte das Gebälk von oben herab. Die Flammen, die dadurch neue Nahrung gefunden hatten, schnitten den Kindern den einzigen Ausweg ab. Mein Vater sah noch vom Treppenhaus aus, wie über die gesamte rechte Saalhälfte die oberen Geschosse hereinstürzten und alles unter sich im Feuer begruben. Es gab für die Kinder keine Rettungsmöglichkeit mehr, auch er konnte nichts mehr tun.“ Ferdinand weinte nicht mehr. Seine Augen hatten einen leeren Ausdruck angenommen und blickten wie blind mit aufgelöstem Fokus. Fritzi zitterte. Sie konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Sie drehte sich um, weg von diesem Elend und sah den dunklen, kalten Himmel, die zerstörte Natur, die beschädigten Häuser und all die Menschen, die verwirrt und ziellos umherliefen. Die Wegweiser für die Fuhrwerke an der nächsten Straßenecke waren mit Erde verschmiert, man konnte die Zeichen nicht mehr erkennen.

    Als hätte sie auf einmal alle Kraft verlassen, kippte Fritzi in Ferdinands Arme und begann leise zu weinen. Ferdinand drückte sie an sich und flüsterte ihr zärtlich ins Ohr: „Lass uns morgen zusammenziehen!“



    S. Kessler   2004